Warum ich mit Instagram Reels nicht warm werde

Es ist jetzt fast ein Jahr her, seit Instagram den TikTok-Klon Reels in über 50 Ländern gelauncht hat. Ich bin mit dem Format nie warm geworden, und das hat mehrere Gründe:

Grund 1: Instagram zwingt uns quasi, Reels zu benutzen

Die organische Reichweite bei Instagram sinkt immer stärker – wie beim Mutterschiff Facebook ein paar Jahre zuvor. Wenn (irgendwo, egal ob bei Instagram oder woanders) neue Funktionen eingeführt werden, ist es logisch und selbstverständlich, dass die Plattformen uns dazu bringen möchten, sie zu nutzen. Das kann so aussehen, dass diese Beiträge gepusht werden, dass in der offiziellen Kommunikation des Unternehmens Nutzer:innen hervorgehoben wird, oder dass sogar die App umgebaut wird, in der Hoffnung, dass wir das neue Format passiv (anschauend) oder aktiv (kreierend) nutzen.

Instagram hat alle Register gezogen:

  • die App wurde umgestaltet (sogar signifikant in meinen Augen! Aus dem Button, bei dem man selber etwas erstellt hat, wurde der Button, über den man Reels anschaut)
  • auf dem @creators Account werden einzelne Künstler:innen gefeaturet (weekly Reel Trend Report) sowie aktuelle erfolgsversprechende Challenges und Sounds vorgestellt
  • Reels erhalten eine prominente Platzierung in der App und einen anderen Algorithmus, der den Content nicht nur den bisherigen Follower:innen zeigt, sondern auch Fremden

Der Joke ist, dass Instagram natürlich möchte, dass Reels erfolgreich werden. Das Unternehmen hat ja schließlich viel Zeit und Geld investiert, um dieses höchst innovative Format selbst zu entwickeln von TikTok zu klauen. Und wie peinlich wäre es, nach ein paar Monaten zuzugeben, dass man dem Konkurrenten nicht das Wasser reichen kann!

(Interessant in dem Kontext: Twitter hat vor ein paar Tagen angekündigt, dass sie die Story-Funktion Fleets bald abschalten, weil sie nicht so genutzt wurde wie gedacht.)

Vor ein paar Tagen habe ich bei Twitter diesen Thread hier entdeckt, der thematisiert, wie Facebook vor ein paar Jahren allen Medienhäusern und Creator:innen weismachen wollte, dass Video das nächste große Ding ist:

There was just one problem. Facebook was lying. FB users weren’t watching its videos, and Facebook knew it. The company was just betting that if it convinced media companies to spend billions making videos, its users would watch them.

Twitter-User @doctorow 15.07.2021

Wieso habe ich das Gefühl, dass hier sowas ähnliches passiert? (Conspiracy-Musik an) TikTok ist super erfolgreich, keine Frage. Aber TikTok hat auch einfach eine andere Kultur als Instagram. Nur weil man das Feature nachbaut, heißt das nicht, dass auch die gleiche Art von Content dort passieren wird. Das sieht man ja alleine schon daran, dass es alle Reels-Trends ein paar Wochen vorher auf TikTok gab. Oder dass Leute entweder Reels oder TikTok gucken, nie beides, weils sonst halt super langweilig wird.

TikTok hat nur ein Medienformat, Instagram ein halbes Dutzend:

  • Feed (Fotos, Videos, Karussell – das originale Insta-Format) + Guides
  • Stories + Story Highlights („inspiriert“ von Snapchat, da hat das Abkupfern ganz gut geklappt)
  • IGTV („inspiriert“ von YouTube)
  • Live
  • Reels

Eigentlich haben wir also eine große Auswahl für ein passendes Medienformat für unseren Content. In der Realität fallen Lives und IGTVs aber raus, weil niemand auf dem Handy längere Videos guckt und IGTV vom YouTube-Konkurrent-Hoffungsträger längst zum Stiefkind herabgestuft wurde. Stories sind den bestehenden Follower:innen vorenhalten und werden auch nicht mehr über Discovery ausgespielt. Also bleibt uns nur die Wahl zwischen Feed-Post und Reel. Und da hat letzterer einen viel „gnädigeren“ Algorithmus, Instagram zwingt uns als quasi, Reels zu benutzen, wenn wir mehr Reichweite möchten.

Hier noch ein passendes Zitat von Instagram-Userin @arielleestoria:

Instagram is exhausting. I know what gets the engagement and the likes. I just refuse to be trapped in a hamster wheel of the same stuff.

@arielleestoria

Grund 2: Video passt einfach nicht zu allem

Wie gesagt, ich verstehe ja, dass Instagram seine neue Funktion pushen will und dass Videos theoretisch unterhaltsam, engaging und interessant für die User:innen sind.

Allerdings macht Instagram es damit den Creator:innen schwer, die das neue Format nicht nutzen möchten – und dazu gibts viele Gründe:

  • man redet über Themen, die ausführlicher behandelt werden sollen als in 30 Sekunden kurzen Videos. (Ich denke hier an zahlreiche Accounts, die eher mit Karussells oder langen Captions arbeiten! Zur Problematik der Verkürzung kommt nochmal ein extra Blogpost)
  • man möchte anonymer bleiben und nicht als „Host“ vor der Kamera stehen, in die Kamera reden, Gesicht zeigen oder gar tanzen und in die Luft zeigen
  • man hat ein Thema, das man schlecht visuell darstellen kann
  • man hat nicht die Zeit oder die Lust, sich in neue Techniken (Videoschnitt etc) einzuarbeiten. Ich denke da vor allem an die Vereine und sozialen Organisationen, mit denen ich zusammenarbeite. Für die ist Social Media schon Neuland und wenn Instagram von ihnen jetzt verlangt, zur tagesaktuell trendscoutenden Medienproduktionsfirma zu werden, melden die sich einfach direkt wieder ab.
  • man findet Fotos, Grafiken und Texte einfach ästhetischer oder passender als Videos
  • man spricht über Themen, die einfach nicht zur meme-artigen Remixkultur (siehe Grund 3) passen

Grund 3: TikTok-artige Kurzvideos haben einfach eine ganz andere Kultur als herkömmliche Social-Media-Beiträge

Wer neu auf TikTok ist, wird ein paar Videos vorgeschlagen bekommen, die auf den ersten Blick nicht so richtig Sinn machen – erst nach dem dritten oder vierten hat man das Muster, den Witz, die Mechanik, das Meme dahinter verstanden. TikTok unterscheidet sich fundamental von anderen Plattformen: Es regt die User:innen dazu an, bestehende Videoideen zu nehmen und nachzustellen, auf eine andere Nische zu übertragen oder hinzuzufügen. Das „Klauen“ von Ideen ist hier keine Übeltat, sondern gewollt!

Auf Instagram hingegen wird sich darüber lustiggemacht, wenn Creator:innen und Influencer:innen die gleichen Bildmotive nachstellen. (vgl. hier eine Liste bei Bored Panda)

Natürlich gibts auch erfolgreiche Memepages in anderen sozialen Netzwerken und wenn man nur ab und zu ein trendiges TikTok mit in den Content-Mix wirft, ist das auch nicht so schlimm. Wenn man aber – Grund 1 sei Dank – Reels zur Content-Strategie Nummer 1 erklärt, gehen die ganzen eigenen Ideen, die eigenen Talking Points, die eigenen Ideen verloren. Und das wäre (a) ziemlich schade und (b) irritierend für einen Großteil der Instagram-User:innen aus Followersicht.


Als Adam Mosseri neulich verkündete, Instagram sei „no longer a square photo sharing app“ und die Plattform eher mit TikTok und YouTube als Konkurrenz verortete, fragten sich viele Leute vollkommen zurecht: Wenn Instagram keine Foto-App mehr sein will, ist jetzt Zeit für ein neues, fotobasiertes soziales Netzwerk gekommen?

(Übrigens, ein gutes TikTok-Video dazu (see the irony) kommt vom User @christopherclaflin. Seine These ist, dass Instagram aus Gier immer mehr Features hinzugefügt hat und seinen Kern dadurch verwässert hat.)

Ich frage mich, wie groß die Bereitschaft wohl wäre, eine derartige neue App auszuprobieren, wenn sie gerade aufkommen würde. RIP Vero an dieser Stelle. Solange wir keinen Nachfolger haben und sehr viele Insta-User:innen immer noch Fotos, Grafiken, Captions und Co sehen wollen – solange hinterlässt der Reel-Push für mich einen schlechten Nachgeschmack.