Es fing mit Prokrastination auf YouTube an. Jade, eine YouTuberin, deren Vlogs ich manchmal gucke, hat in ihren Videos immer wieder über ihre Universität und deren Besonderheiten gesprochen. Sie studiert nämlich nicht an einer „normalen“, klassischen Uni, sondern an der innovativen Minerva School. Einer Uni ohne Campus, deren Unterricht zwar zu 100% online abläuft, bei der die Kommiliton*innen eines Jahrgangs aber gemeinsam in Großstädten auf der ganzen Welt leben, lernen und die Kultur erkunden. Aktuell ist die YouTuberin Jade trotz Corona zu ihrem Auslandssemester nach Berlin gereist und es macht Spaß, zu sehen, wie sie Deutschland erkundet. Was sie von ihrer Uni zeigt, sieht aber vor allem nach Anstrengung aus:
frühmorgens aufstehen oder bis in die Nacht wachbleiben (die Kurse richten sich ja schließlich an Studis in allen möglichen Zeitzonen)
dauernd Abgaben und Essays
viel Lektüre und intensive Vorbeitungen auf die Sessions
ein breites, interdisziplinäres Programm
Ganz ehrlich? Was ich bei Jade sah, sah auf jeden Fall effektiv, aber auch sau anspruchsvoll und fordernd aus!
Ein paar Wochen später habe ich dann zufällig wieder etwas von Minerva und deren didaktisch-methodischem Ansatz gehört. Dieses Mal bei Chris Do im The Futur Podcast. In Folge 108 war Ayo Seligman zu Gast und es ging eher um die Herausforderung, ein innovatives Bildungsprojekt zu branden und zu vermarkten. Man hat Chris aber angehört, dass er Minerva nicht nur aus Design- und Branding-Perspektive spannend findet. Folge 109 war dann eine Bonusfolge mit Christine Looser – und boy, war das spannend, fast zwei Stunden lang das Gespräch über die Lernprinzipien, den Curriculumsaufbau und den Minerva-Bildungsansatz zu hören!! Wenn ihr so Didaktiknerds seid wie ich, hört die Folge unbedingt an!
Zum Einstieg könnt ihr mal diese Präsentationsfolien (PDF) von Stephen Kosslyn anschauen. Letzterer ist ein US-amerikanischer Psychologe, der u.a. in Harvard und Stanford zu Kognitionspsychologie geforscht hat. Kosslyn ist für die „pedagogic philosophy“ an der Minerva School verantwortlich und hat – tada, jetzt kommen wir endlich zu den heutigen Book Notes – ein Buch über „Active Learning“ (das pädagogisch-didaktische Grundprinzip der Uni) unter Online-Bedingungen geschrieben.
Online-Unterricht, aka was die Minerva School seit jeher macht, ist im Sommersemester 2020 Mainstream geworden. Dabei hinken die traditionellen Unis aber noch total hinterher und sind von effektivem Unterricht oft noch meilenweit entfernt. (Ihr glaubt nicht, was meine Studis mir für Horrorgeschichten erzählen..)
Effektiv online lehren und lernen
Das Buch „Active Learning Online“ will also eine Methode zeigen, wie man synchronen und/oder asynchronen Online-Unterricht effektiv gestalten kann. Active Learning basiert auf der Wissenschaft des Lernens („Science of Learning“) und folgt fünf Grundprinzipien.
Welches Tool man dafür verwendet, also ob Zoom, Microsoft Teams, Google Meet oder schlagmichtot, ist egal. Und das ist schonmal sehr erfrischend, weil leider gefühlt 80% der Diskussion rund um Digitale Lehre nur von Tools handelt. (Das ist nicht nur ein Bauchgefühl – für einen aktuellen Auftrag in spe haben Leonie, Jenni und ich uns angeguckt, was die 25 größten Präsenzunis Deutschlands im Bereich der Digitialen Lehre machen. Und ich sag mal so: Zwischen den Zoom Tutorials, den Moodle-Selbstlernkursen, den Techniksprechstunden und den Datenschutzdiskussionen sieht man leider echt wenig Material zur Didaktik und Methodik dahinter. ?)
Active Learning
Wie bereits angedeutet, basiert Active Learning auf fünf Grundprinzipien:
The Principle of Deep Processing, also der intensiven mentalen Beschäftigung mit Informationen für besseres Lernen
The Principle of Chunking, also der Organisation von Lehrmaterial in kleinere und größere Units, die man besser verarbeiten kann
The Principle of Associations, also dem Erstellen von Assiziationsnetzwerken, Kontexten und Beispielen
The Principle of Dual Coding, also dem Bereitstellen von Informationen auf Wort- und Bildebene
The Principle of Deliberate Practive, also dem gezielten Üben und Verbessern der eigenen Leistung.
All das wird unter der ICAP-Hypothese dazu verbunden, dass die Studierenden sich möglichst interaktiv mit dem Stoff beschäftigen sollen, um ihm zu „lernen“ (aka, ihn zu verstehen, zu merken und anwenden zu können). Dafür erarbeiten sich die Studis den grundlegenden Input selbst (Flipped-Classroom-Modell) und machen in den Live-Sitzungen mit der Dozentin/dem Dozenten und den anderen Studis eine Reihe von interaktiven Übungen und Activities. Dafür hat das Minerva Project extra eine eigene Plattform entwickelt, die zum Beispiel die Redezeit misst. Der Dozentin wird dann angezeigt, wer schon (zu) viel gesagt hat und wer in dieser Sitzung noch zu still war und sich mal mehr beteiligen sollte.
Wie ihr seht: Klingt aus Studi-Perspektive total anstrengend! Das ist übrigens ein interessanter Aspekt, um den es auch in den Podcastfolgen geht. Natürlich ist Active Learning für die Studis viel anstrengender, als nur im Hörsaal zu hocken und einer Vorlesung zu lauschen. Dafür sind die Lernergebnisse auch besser und nachhaltiger.
Einige Minerva-Aspekte, die ich in den Podcast-Interviews spannend fand (u.a. die Core Competencies und die Habits und Foundations) fanden im Buch leider gar nicht statt – da muss ich mir an anderer Stelle mehr zu anlesen. Dafür ist das Buch Active Learning Online von Stephen Kosslyn sehr offen für jede Art von Dozent*in geschrieben. Und natürlich – wie von einer Psychologiekoryphäe zu erwarten – ist es auch sehr gut verständlich geschrieben, logisch aufgebaut und nutzt die eigenen Prinzipien. Kossyln schreibt selber:
I aim to show and tell.
Das merkt man etwa, wenn er vorherige Beispiele aufgreift, um daran ein weiteres Prinzip zu veranschaulichen und über die Bedeutung von Wiederholungen und breit gestreuten Beispielen schreibt. Zugegeben: Ich fühle mich ein ganz kleines bisschen „belehrt“, aber ich zweifle nicht an, dass hinter diesen Prinzipien einfach etwas steckt.
Mit vielen Beispielen, wie man eine Übung gemäß der Science-of-Learning-Prinzipien planen und durchführen kann, Schaubildern und kurzen persönlichen Anekdoten bereitet Kossyln das durchaus trockene Thema „Lernen“ super auf. Am Ende gibt es sogar eine Liste mit konkreten Exercises und Formats, die sich für Active Learning Online eignen.
Hier meine Book Notes zu Active Learning Online:
Didaktik im Fokus
Zunächst meine Empfehlung: Wer sich mit Digitaler (Hochschul-)Lehre auseinandersetzt, sollte dieses Buch auf jeden Fall kaufen und lesen. Und sei es nur, um damit dem nächsten „Aber Zoom-Vorlesungen sind total langweilig und bringen nix“-Kritiker eine Schelle zu verpassen. Online-Unterricht ist und kann nämlich SO VIEL MEHR als ein PowerPoint-Vortrag mit verzerrter Roboterstimme.
Dennoch kann ich mir vorstellen, dass das Buch für Lehrende, die sich sonst nicht mit verschiedenen Lehrformaten auseinandersetzen, überfordernd ist. (Looking at you, vorlesungsverliebte MINT-Lehrende und referatsvernarrte Geisteswisschaftler*innen ?) Diese bräuchten auf jeden Fall Hilfestellung bei der Übertragung der Prinzipien bzw. Beispiel-Aktivitäten in ihr Fachgebiet.
Meine Einschätzung
Ich persönlich konnte aus Active Learning Online einige Ideen mitnehmen, auch wenn wir vieles bekannt vorkam. Ich komme ja (zum Glück, hust hust) nicht aus der klassischen Trainer-Szene, sondern habe das Unterrichten in der Uni (Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie) gelernt und hatte dort klasse Didaktik-Dozent*innen. Prinzipien wie Unterrichtsgespräche statt Monologe, viele Beispiele, Abwechslung im Seminarplan und gute Visualisierungen hab ich eh verinnerlicht. Ein paar Sachen kann ich aber noch „aktiver“ und noch mehr „engaging“ gestalten. (Sorry, mir fällt keine gute deutsche Entsprechung ein – aber wenn ich eine finde, kann ich sie durch die five principles sicher besser behalten.)
Stephen M. Kosslyn (2020): Active Learning Online: Five Principles that Make Online Courses Come Alive. ISBN 978-1735810706
Es fing mit Prokrastination auf YouTube an. Jade, eine YouTuberin, deren Vlogs ich manchmal gucke, hat in ihren Videos immer wieder über ihre Universität und deren Besonderheiten gesprochen. Sie studiert nämlich nicht an einer „normalen“, klassischen Uni, sondern an der innovativen Minerva School. Einer Uni ohne Campus, deren Unterricht zwar zu 100% online abläuft, bei der die Kommiliton*innen eines Jahrgangs aber gemeinsam in Großstädten auf der ganzen Welt leben, lernen und die Kultur erkunden. Aktuell ist die YouTuberin Jade trotz Corona zu ihrem Auslandssemester nach Berlin gereist und es macht Spaß, zu sehen, wie sie Deutschland erkundet. Was sie von ihrer Uni zeigt, sieht aber vor allem nach Anstrengung aus:
Ganz ehrlich? Was ich bei Jade sah, sah auf jeden Fall effektiv, aber auch sau anspruchsvoll und fordernd aus!
Ein paar Wochen später habe ich dann zufällig wieder etwas von Minerva und deren didaktisch-methodischem Ansatz gehört. Dieses Mal bei Chris Do im The Futur Podcast. In Folge 108 war Ayo Seligman zu Gast und es ging eher um die Herausforderung, ein innovatives Bildungsprojekt zu branden und zu vermarkten. Man hat Chris aber angehört, dass er Minerva nicht nur aus Design- und Branding-Perspektive spannend findet. Folge 109 war dann eine Bonusfolge mit Christine Looser – und boy, war das spannend, fast zwei Stunden lang das Gespräch über die Lernprinzipien, den Curriculumsaufbau und den Minerva-Bildungsansatz zu hören!! Wenn ihr so Didaktiknerds seid wie ich, hört die Folge unbedingt an!
Zum Einstieg könnt ihr mal diese Präsentationsfolien (PDF) von Stephen Kosslyn anschauen. Letzterer ist ein US-amerikanischer Psychologe, der u.a. in Harvard und Stanford zu Kognitionspsychologie geforscht hat. Kosslyn ist für die „pedagogic philosophy“ an der Minerva School verantwortlich und hat – tada, jetzt kommen wir endlich zu den heutigen Book Notes – ein Buch über „Active Learning“ (das pädagogisch-didaktische Grundprinzip der Uni) unter Online-Bedingungen geschrieben.
Online-Unterricht, aka was die Minerva School seit jeher macht, ist im Sommersemester 2020 Mainstream geworden. Dabei hinken die traditionellen Unis aber noch total hinterher und sind von effektivem Unterricht oft noch meilenweit entfernt. (Ihr glaubt nicht, was meine Studis mir für Horrorgeschichten erzählen..)
Effektiv online lehren und lernen
Das Buch „Active Learning Online“ will also eine Methode zeigen, wie man synchronen und/oder asynchronen Online-Unterricht effektiv gestalten kann. Active Learning basiert auf der Wissenschaft des Lernens („Science of Learning“) und folgt fünf Grundprinzipien.
Welches Tool man dafür verwendet, also ob Zoom, Microsoft Teams, Google Meet oder schlagmichtot, ist egal. Und das ist schonmal sehr erfrischend, weil leider gefühlt 80% der Diskussion rund um Digitale Lehre nur von Tools handelt. (Das ist nicht nur ein Bauchgefühl – für einen aktuellen Auftrag in spe haben Leonie, Jenni und ich uns angeguckt, was die 25 größten Präsenzunis Deutschlands im Bereich der Digitialen Lehre machen. Und ich sag mal so: Zwischen den Zoom Tutorials, den Moodle-Selbstlernkursen, den Techniksprechstunden und den Datenschutzdiskussionen sieht man leider echt wenig Material zur Didaktik und Methodik dahinter. ?)
Active Learning
Wie bereits angedeutet, basiert Active Learning auf fünf Grundprinzipien:
All das wird unter der ICAP-Hypothese dazu verbunden, dass die Studierenden sich möglichst interaktiv mit dem Stoff beschäftigen sollen, um ihm zu „lernen“ (aka, ihn zu verstehen, zu merken und anwenden zu können). Dafür erarbeiten sich die Studis den grundlegenden Input selbst (Flipped-Classroom-Modell) und machen in den Live-Sitzungen mit der Dozentin/dem Dozenten und den anderen Studis eine Reihe von interaktiven Übungen und Activities. Dafür hat das Minerva Project extra eine eigene Plattform entwickelt, die zum Beispiel die Redezeit misst. Der Dozentin wird dann angezeigt, wer schon (zu) viel gesagt hat und wer in dieser Sitzung noch zu still war und sich mal mehr beteiligen sollte.
Wie ihr seht: Klingt aus Studi-Perspektive total anstrengend! Das ist übrigens ein interessanter Aspekt, um den es auch in den Podcastfolgen geht. Natürlich ist Active Learning für die Studis viel anstrengender, als nur im Hörsaal zu hocken und einer Vorlesung zu lauschen. Dafür sind die Lernergebnisse auch besser und nachhaltiger.
Einige Minerva-Aspekte, die ich in den Podcast-Interviews spannend fand (u.a. die Core Competencies und die Habits und Foundations) fanden im Buch leider gar nicht statt – da muss ich mir an anderer Stelle mehr zu anlesen. Dafür ist das Buch Active Learning Online von Stephen Kosslyn sehr offen für jede Art von Dozent*in geschrieben. Und natürlich – wie von einer Psychologiekoryphäe zu erwarten – ist es auch sehr gut verständlich geschrieben, logisch aufgebaut und nutzt die eigenen Prinzipien. Kossyln schreibt selber:
Das merkt man etwa, wenn er vorherige Beispiele aufgreift, um daran ein weiteres Prinzip zu veranschaulichen und über die Bedeutung von Wiederholungen und breit gestreuten Beispielen schreibt. Zugegeben: Ich fühle mich ein ganz kleines bisschen „belehrt“, aber ich zweifle nicht an, dass hinter diesen Prinzipien einfach etwas steckt.
Mit vielen Beispielen, wie man eine Übung gemäß der Science-of-Learning-Prinzipien planen und durchführen kann, Schaubildern und kurzen persönlichen Anekdoten bereitet Kossyln das durchaus trockene Thema „Lernen“ super auf. Am Ende gibt es sogar eine Liste mit konkreten Exercises und Formats, die sich für Active Learning Online eignen.
Hier meine Book Notes zu Active Learning Online:
Didaktik im Fokus
Zunächst meine Empfehlung: Wer sich mit Digitaler (Hochschul-)Lehre auseinandersetzt, sollte dieses Buch auf jeden Fall kaufen und lesen. Und sei es nur, um damit dem nächsten „Aber Zoom-Vorlesungen sind total langweilig und bringen nix“-Kritiker eine Schelle zu verpassen. Online-Unterricht ist und kann nämlich SO VIEL MEHR als ein PowerPoint-Vortrag mit verzerrter Roboterstimme.
Dennoch kann ich mir vorstellen, dass das Buch für Lehrende, die sich sonst nicht mit verschiedenen Lehrformaten auseinandersetzen, überfordernd ist. (Looking at you, vorlesungsverliebte MINT-Lehrende und referatsvernarrte Geisteswisschaftler*innen ?) Diese bräuchten auf jeden Fall Hilfestellung bei der Übertragung der Prinzipien bzw. Beispiel-Aktivitäten in ihr Fachgebiet.
Meine Einschätzung
Ich persönlich konnte aus Active Learning Online einige Ideen mitnehmen, auch wenn wir vieles bekannt vorkam. Ich komme ja (zum Glück, hust hust) nicht aus der klassischen Trainer-Szene, sondern habe das Unterrichten in der Uni (Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie) gelernt und hatte dort klasse Didaktik-Dozent*innen. Prinzipien wie Unterrichtsgespräche statt Monologe, viele Beispiele, Abwechslung im Seminarplan und gute Visualisierungen hab ich eh verinnerlicht. Ein paar Sachen kann ich aber noch „aktiver“ und noch mehr „engaging“ gestalten. (Sorry, mir fällt keine gute deutsche Entsprechung ein – aber wenn ich eine finde, kann ich sie durch die five principles sicher besser behalten.)
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